Warum das Körpergedächtnis wichtig ist?

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum manche Emotionen oder Reaktionen scheinbar aus dem Nichts auftauchen? Warum ein bestimmter Geruch, eine Berührung oder ein Lied plötzlich Erinnerungen in Ihnen wachruft? Unser Körper speichert nicht nur überfordernde Erlebnisse, wie Trauma oder Verletzungen, bei denen Kraft oder Spannung gehalten wird. Der Körper speichert auch unterstützende und nährende Erfahrungen, in denen sich unsere Kraft entfalten kann.

In diesem Artikel erfahren Sie, wie das Körpergedächtnis funktioniert, warum Erfahrungen und Affekte im Körper bleiben und wie sie verarbeitet werden können, sodass die darin gehaltene Kraft wieder mehr zur Verfügung steht.

Was ist das Körpergedächtnis?

Das Körpergedächtnis ist die unbewusste Speicherung von Erlebnissen, Erfahrungen und Affekten in unserem Nervensystem. Unser Körper speichert diese Inhalte in Form von Bewegungsmustern, Spannungsreaktionen und emotionalen Verbindungen. So entsteht ein regelrechtes Archiv früherer Empfindungen, Reaktionen und Verhaltensweisen.

Beispiele für das Körpergedächtnis:

Radfahren, Schwimmen, Musizieren – unser Körper erinnert sich, auch wenn wir lange pausiert haben.

Ein bestimmter Duft ruft Gefühle oder Erinnerungen an die Kindheit hervor.

Menschen, die als Kinder mit verbaler Aggression konfrontiert waren, gehen in Anspannung, wenn jemand lauter wird.

Warum bleiben alte Erfahrungen im Körper gespeichert?

Unser Nervensystem speichert Erlebnisse, Affekte und körperlich-emotionale Reaktionen, um uns in Zukunft zu unterstützen. Das ist ein natürlicher Vorgang der Evolution und hilft uns, im Alltag rasch zu reagieren.

Bunte Blumen vor einer blauen Wand. Rapunzeln und Lilien.

Warum Erfahrungen gespeichert werden:

Schutzmechanismus des Körpers
Unser Körper lernt, Situationen frühzeitig zu erkennen und Schutzreaktionen zu erzeugen, die damals hilfreich waren.

Ökonomische Nutzung von Energie
Bewegungs- und Reaktionsmuster werden gespeichert, damit wir nicht jedes Mal neue Lösungen entwickeln müssen.

Schnelligkeit der Reaktion
Gespeicherte Muster ermöglichen es dem Körper, blitzschnell auf bekannte Reize zu reagieren, ohne dass bewusste Entscheidungen nötig sind.

Soziale Anpassung
In sozialen Situationen kann es hilfreich sein, bestimmte Verhaltensmuster oder Körpersignale (etwa veränderte Körperhaltung) automatisch abzurufen.

Die Facetten des Körpergedächtnisses

Um das Körpergedächtnis in seiner ganzen Bandbreite zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf vier Schwerpunkte:

Verarbeitung, Affekte, Angst, Hilflosigkeit, Trauma und Reaktionen

  • Emotionale Verknüpfungen: Ein bestimmter Geruch oder ein bestimmtes Lied können längst vergessen geglaubte Gefühle oder Bilder hervorrufen.
  • Angst und Hilflosigkeit: Werden unangenehme oder traumatische Erfahrungen nicht verarbeitet, bleibt der Körper in Alarmbereitschaft. Muskelverspannungen oder ein Gefühl von „innerer Unruhe“ sind mögliche Signale.
  • Traumareaktionen: Unser Nervensystem „merkt“ sich Situationen, die stark überfordernd waren. Kommt es erneut zu einer ähnlichen Lage, reagiert der Körper oft reflexartig mit bekannten Stressmustern (z. B. Erstarren, Herzrasen).

Das Körpergedächtnis speichert somit nicht nur körperliche, sondern auch emotionale Reaktionen und Affekte, die unbewusst immer wieder abgerufen werden können.

Haltung, zelluläres Gedächtnis, wiederholte Bewegungsmuster

  • Körperhaltung: Unsere typische Haltung – ob aufrecht, nach vorn gebeugt oder mit hochgezogenen Schultern – kann Ausdruck von erlebtem Stress oder erlernten Schutzreaktionen sein.
  • Zelluläres Gedächtnis: Schon in den Muskeln und Faszien können sich über Jahre Spannungen festsetzen. Übungen wie Dehnen, Yoga oder Faszienarbeit können diese Muster allmählich verändern.
  • Wiederholte Bewegungsmuster: Sportliche Bewegungsabläufe, handwerkliche Fertigkeiten oder alltägliche Routinen (z. B. das Eintippen einer PIN) werden vom Körper automatisch ausgeführt, ohne dass wir bewusst nachdenken müssen.

Training und Wiederholung, Neugier, Intuition schulen

  • Training und Wiederholung: Was wir häufig üben, setzt sich tief im Nervensystem fest – vom Erlernen eines Instruments bis hin zum Lesen.
  • Neugier: Ein spielerischer, entdeckender Umgang mit neuen Bewegungen oder Fähigkeiten unterstützt den Lernprozess und ermöglicht eine leichtere Verankerung im Körper.
  • Intuition schulen: Je mehr wir erfahren und „abspeichern“, desto schneller funktioniert unsere intuitive Körperwahrnehmung. Beispielsweise entwickeln erfahrene Tänzerinnen und Tänzer oder Sportlerinnen und Sportler oft ein hochgradig sensibles Körpergefühl.

Bewegung, Erinnerung, Anpassung und Lernen

  • Heilung durch Bewegung: Durch körperliche Aktivität und bewusste Wahrnehmung lassen sich alte Muster erkennen und überschreiben. Das ist immer auch ein Teil von Körpertherapie.
  • Erinnerung & Verarbeitung: Wenn durch eine Übung (z. B. Atemtechnik) verschüttete Affekte oder Gefühle hochkommen, kann dies die Chance bieten, diese bewusst zu verarbeiten und zu integrieren.
  • Anpassung & Lernen: Neue Erfahrungen und unterstützende Körperempfindungen werden ebenfalls in unserem System gespeichert und können belastende Reaktionsmuster ablösen.

Körpergedächtnis als Ressource: Wie Erfahrungen helfen

Nicht nur herausfordernde Erinnerungen bleiben im Körper, sondern auch unterstützende Erlebnisse. Diese können gezielt aktiviert werden, um mehr Sicherheit, Gelassenheit und Selbstvertrauen zu gewinnen.

Beispiele für Körpererinnerungen

  • Heilsame Berührung: Eine sanfte, bewusste Berührung kann Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Zum Beispiel kann das Halten einer Hand in einem Moment der Unsicherheit eine tiefe Verbindung schaffen und das Nervensystem beruhigen.
  • Ermächtigung durch körperliches Lernen: Wer als Kind das Laufen gelernt hat, speichert nicht nur die Technik, sondern auch die Freude, den Mut, Gefühle von Neugier – und oft auch die Erfahrung: „Scheitern gehört dazu, aber ich schaffe es!“
  • Erlernte Entspannung: Eine tiefe Bauchatmung kann zur Regulierung von Anspannung beitragen. Nach mehrmaligem Üben erinnert sich der Körper oft an das beruhigende Gefühl.
  • Bewegungsmuster: Wiederholte unterstützende Bewegungen (z. B. bestimmte Atem-Übungen) fördern ein Gefühl von Erdung, Sicherheit und emotionaler Stabilität.

Wie kann Körpertherapie helfen?

Körpertherapie setzt an den gespeicherten Mustern im Körper an und ermöglicht es, diese bewusst wahrzunehmen und zu verändern. Durch Berührung, Atmung und Bewegung kann das Nervensystem neue Erfahrungen sammeln und bestehende Spannungen lösen.

  • Achtsame Wahrnehmung: Der erste Schritt ist, die eigenen Körperreaktionen, Gefühle und Empfindungen zu bemerken.
  • Neue Muster entwickeln: Ein bewusster Umgang mit körperlichen Empfindungen kann dazu beitragen, Sicherheit und Selbstvertrauen zu fördern. So lernt der Körper, alternative Reaktionen zu entdecken.
  • Schrittweise Veränderung: Der Körper wird nicht einfach „korrigiert“. Vielmehr bietet achtsame Begleitung Raum, neue Bewegungen und Ausdrucksformen zu erproben und nachhaltig abzuspeichern.

Beispiel aus der therapeutischen Arbeit.

Ein Klient hat gelernt, sich klein zu machen, um Konflikte zu vermeiden. In der Körpertherapie spürt er, wie er oft die Schultern nach vorne zieht. Durch unsere Arbeit erkennt er, dass dieses Muster ihm einst Schutz geboten hat, als er verunsichert war. Mit der Zeit traut er sich, eine aufrechtere Haltung einzunehmen und die damit erstmal verbundene Unsicherheit zu zulassen. Dadurch kann sich die zuvor zurückgehaltene Kraft entfalten, und er erlebt ein wachsendes Gefühl von Präsenz und Selbstbewusstsein.

Steffen Arndt

Nutzen Sie Ihr Körpergedächtnis als Ressource!

Unser Körper erinnert sich – und wir können bewusst Einfluss nehmen. Ob durch Körpertherapie, gezielte Körperübungen oder einfache Alltagsroutinen: Es ist möglich, überkommene Schutzmechanismen aufzulösen und neue, kraftvolle Erfahrungen zu verankern. Möchten Sie erfahren, wie Sie Ihr Körpergedächtnis neu „schreiben“ können? Dann lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Alte Erfahrungen können zur Ressource werden, wenn wir lernen, sie achtsam zu erspüren, zu verstehen und zu transformieren.

Quellen

Hinweis: Dieser Artikel beruht auf fachlicher Erfahrung und reflektiert eine körpertherapeutische Perspektive. Die genannten Quellen dienen der Vertiefung und Anregung.

Portraet eines Mannes in Berlin, der Koerpertherapie anbietet.

Über den Autor

Steffen Arndt ist Heilpraktiker für Psychotherapie und Physiotherapie mit über 20 Jahren Erfahrung in der Begleitung von Menschen mit körperlichen und seelischen Beschwerden.

In seiner Arbeit verbindet er fundiertes Wissen aus Anatomie, manueller Therapie und somatischer Psychotherapie. Seine Schwerpunkte liegen in der Arbeit mit Trauma, psychosomatischen Beschwerden sowie Depression und Angstzuständen.

Was ihn auszeichnet: Achtsamkeit, Klarheit – und die Überzeugung, dass nachhaltige Veränderung dort beginnt, wo der Körper mit einbezogen wird.